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Sir András Schiff bei Klosters Music 2021 © Marcel Giger
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David Whelton © Yanik Bürkli

Einzigartige Einblicke: Sir András Schiff im Gespräch mit David Whelton

Insgesamt acht wundervolle und inspirierende Konzerte durften wir am Klosters Music 2021 geniessen. Sowohl das abwechslungsreiche Programm als auch die versierten Interpretinnen und Interpreten vermochten das Publikum Abend für Abend mit einzigartigen und ausdrucksstarken Darbietungen zu begeistern. Und so dürfte auch vielen von uns und unseren Gästen das ebenso meisterhafte wie sensible Rezital von Sir András Schiff vom 5. August in nachhaltiger Erinnerung geblieben sein. Der künstlerische Leiter von Klosters Music, David Whelton, hat mit Sir András Schiff ein ausführliches «Kamingespräch» geführt, welches uns einen vertieften Einblick in die Arbeit und in das Leben des weltbekannten Pianisten eröffnet.

Für junge Pianisten war Sir András Schiff’s Aufführung des d-Moll Konzertes von Johann Sebastian Bach an der «Leeds Piano Competition» im Jahre 1975 eine Offenbarung. Da war ein ebenso junger wie brillanter Pianist, der sich nicht darum kümmerte, ob eine Jury wohl am ehesten von der Aufführung eines der grossen romantischen Klavierkonzerte beeindruckt wäre. Es waren die geistige Unabhängigkeit und die gedankliche Klarheit, welche von Anbeginn an die Markenzeichen von Sir András Schiffs Karriere wurden. Der Rest ist, wie man sagt, Geschichte: Sir András Schiff erreichte einen ungeheuerlichen Einfluss auf die Musikwelt und hat ein enges Verhältnis zu seinem Publikum in London, insbesondere zu jenem der «Wigmore Hall», einem der weltweit erlesensten Orte für Kammermusik, entwickelt. Schiff fühlte sich in London zu Hause. Vielleicht hat die Präsenz von George Malcolm, einem seiner Mentoren, der damals eine wichtige Figur in der Musikszene in London war, wesentlich dazu beigetragen. Nach meiner Ernennung 1987 als Direktor des Philharmonia Orchestra gehörte es zu meinen Prioritäten, Sir András dazu einzuladen, regelmässig mit dem Orchester zu spielen. Für mich war es ein Glücksfall, dass Sir András Schiff ein Bewunderer von Otto Klemperer, dem musikalischen Vater der Philharmonia, war. In Terry Harrison wiederum hatte er einen sensiblen Manager, der mir dabei half, Sir András Schiff vom Potential dieser Partnerschaft zu überzeugen. Weiter war es dienlich, dass es mir gelungen ist, mit dem grossen deutschen Dirigenten Kurt Sanderling einen Musiker zur Philharmonia zu holen, der in derselben Tradition wie Klemperer stand.

Was folgte, übertraf unsere kühnsten Erwartungen. Sir András Schiff’s Konzerte waren sozusagen die Highlights der Londoner Saison. Die Programmplanung erfolgte normalerweise beim gemütlichen Lunch im Bombay Palace, die übrige Zeit verbrachten wir mit der Entwicklung von zyklischen Projekten zu Bach, Haydn, Mozart und Beethoven. Diese Arbeitsweise gab Sir András Schiff den Freiraum für seine künstlerischen Ideen und zugleich die Möglichkeit, das Orchester direkt zu leiten. Es war ausserordentlich inspirierend, mit ihm zu arbeiten. Seine musikalischen Ideen waren zwingend, die Konzerte voller Energie und Lebensfreude. Mit ihm hatten die Musiker das Gefühl, wirklich miteinander Kammermusik zu machen und freuten sich somit auf jede Zusammenarbeit. Mit seinem immensen Repertoire an Witzen war und ist er zusammen mit seiner Gattin Yuko stets auch ein wundervoller Gast bei den Abendessen nach den Konzerten. 1991 hatte ich die Ehre, Mitglied im Gremium des bemerkenswerten «IMS Prussian Cove» Seminars zu werden, welches von Sir András Schiffs Freund und Kollege, dem ungarischen Violinisten Sandor Vegh ins Leben gerufen worden war. Hier konnte ich seinen Zugang zur jungen Generation erleben, der er dabei seine musikalischen Ideale mit auf den Weg gab. Als Europäer, verwurzelt in den höchsten kulturellen Werten, gibt er den jungen Musikern eine Sichtweise auf die Welt, die für Musiker, die ihre eigene musikalische Identität finden müssen, von unschätzbarem Wert ist. Und so ist es mir als musikalischem Leiter von Klosters Music eine Ehre und eine Freude zugleich, Sir András Schiff nach Klosters einzuladen. Waren seine Konzerte bereits in London ein besonderes Ereignis, ist es eine ausserordentliche Erfahrung, die musikalische Grösse eines der wichtigsten Pianisten unserer Zeit in der natürlichen Schönheit der schweizerischen Alpen zu erleben.

David Whelton, 28/05/2021


David Whelton: Die letzten 18 Monate waren ausserordentlich schwierig für die Kunst, fast alle Konzerte wurden abgesagt. Sie konnten einige Konzerte spielen, dennoch, wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Sir András Schiff: Um ehrlich zu sein: Ich habe diese Zeit nicht genossen. Obwohl es auch gut war, einmal zu Hause zu sein und etwas Ruhe zu finden. Dennoch: Ich hatte sozusagen meinen Lebensrhythmus verloren. Die tägliche Notwendigkeit zu arbeiten und zu üben war weg. Es schien, als gäbe es keine Energie mehr, keine Ziele und somit keine Motivation. Da war ein echter Mangel an Adrenalin und eine gewisse Gefahr von Depression. Da ich aber ein sehr disziplinierter Mensch bin, habe ich es geschafft, jeden Tag aufzustehen und zu üben. Aber einfach war es in der Tat nicht. Natürlich hat die Situation auch ihr Gutes mit sich gebracht: Ich habe beispielsweise angefangen zu kochen und mir ein kleines aber ausserordentlich schmackhaftes Repertoire von ungarischen Spezialitäten erarbeitet.

Viele Künstler haben während des Lockdowns begonnen, ihre Konzerte zu streamen. Gerade die Wigmore Hall Konzertreihe, in der Sie auch gespielt haben, hat grossen Anklang gefunden und hat ein breites Publikum erreicht. Spielt Streaming in Zukunft noch eine Rolle, wenn sich der Konzertbetrieb wieder normalisiert oder ist dies nur ein Phänomen, um Musik live verfügbar zu machen, weil die Konzerthäuser geschlossen wurden?

Die Wigmore Hall hat eine perfekte Infrastruktur, die Kameras und die Mikrophone irritieren nicht, denn man nimmt sie schlicht nicht wahr. Andernorts ist das eine recht bunte Mischung, da habe ich auch einige schreckliche Erfahrungen gemacht. Musik ist keine visuelle Kunst. Man kann die Augen schliessen und einfach nur zuhören. Natürlich hat ein Konzert auch visuelle Aspekte, sie sind allerdings nicht das Wichtigste. Das ist etwas, was die meisten Leute von Film und Fernsehen nicht verstehen. Sie haben keinen Zugang zur Essenz der Musik und fragen sich ständig, wie sie die Musik für den Zuschauer „interessant“ machen könnten. Anstatt den Musikern und der Musik zu vertrauen, unterbrechen sie den natürlichen Fluss mit ständigen Wechseln des Kamerawinkels. Es gibt natürlich auch Ausnahmen, aber es ist fast die Regel. Für die Zukunft hoffe ich also, dass wir Schritt für Schritt zu Konzerten mit Live-Publikum zurückkehren können. Obwohl es ein längerer Prozess sein wird, zuerst mit beschränkter Zuschauerzahl. Wenn man aber zugleich das Streaming beibehält, um so besser. Zumal: Für mich ist es angenehmer, in der Wigmore Hall oder im Teatro Olimpico in Vicenza zu spielen und das Konzert wird nach Australien oder in die USA gestreamt, als dass ich dahin Reise und den Albtraum des derzeitigen Reisens durchleben muss.

Alle mit denen ich gesprochen habe, sagten, sie hätten es vermisst, live zu spielen. Ich glaube, dass die Kommunikation zwischen Musikerinnen und Musikern und dem Publikum ein wesentlicher Teil unseres Erlebens der Musik ist und somit auch nicht ersetzt werden kann. Denken Sie, dass dies einer der Gründe ist, warum wir so sehr an der Live-Aufführung hängen und warum sie sowohl für die Interpreten als auch für das Publikum so wichtig ist?

Live-Konzerte sind absolut unersetzlich. Sie sind eine gemeinsame Erfahrung. Es ist ein «Hier und Jetzt», morgen wird es wieder anders sein.

Zahlreiche Musikerinnen und Musiker haben mit verschiedensten Formaten experimentiert, um während der letzten 18 Monate live spielen zu können. Gibt es aus Ihrer Sicht Formate, die man beibehalten sollte oder müsste man so schnell als möglich zu den konventionellen Formaten zurückkehren?

Darüber müssen wir ebenso sorgfältig wie auch dringlich nachdenken. Denn es wird schwierig sein, die Menschen zurück in die Konzertsäle zu bringen. Obwohl offensichtlich ist, wie sehr ihnen die Kunst und die Musik gefehlt haben. Aber die Angst wird noch eine Weile da sein. Die Art, wie wir in Konzerte gehen, folgt Regeln und Konventionen, die steif und  altmodisch sind und das müssen wir hinterfragen, wenn wir auch für jüngere Menschen attraktiv sein wollen.

Erlauben Sie mir, an dieser Stelle einige Beispiele zu machen: Wir Musiker sind dazu angehalten, ein, zwei, oder mehr Jahre im Voraus ein präzises Programm zu kommunizieren. Die Öffentlichkeit soll genau wissen, was wir spielen werden. Aber ist das wirklich eine gute Sache? Wie soll ich wissen, was ich am 6. August 2025 Lust habe zu spielen? Soll das Publikum wirklich alles zum Vornherein wissen? Können wir hier nicht ein wenig mehr Fantasie haben, etwas mehr Überraschung, etwas mehr Flexibilität? Ich würde meine Programme am liebsten spontan auf der Bühne kommunizieren und im Vorfeld vielleicht lediglich die Namen der Komponisten ankündigen. Sicherlich ist das an einem Klavierabend möglich, nicht aber dann, wenn es um Opern und Sinfonien geht. Ausserdem können wir heute nicht mehr davon ausgehen, dass das Publikum so viel über die Musik weiss wie einst, als die Amateur-Musik im häuslichen Rahmen intensiv gepflegt wurde. Entsprechend könnten wir damit also das Konzert auch zu einer lehrreichen Erfahrung machen, indem wir über die Kompositionen sprechen und das Publikum dazu einladen, zuzuhören. Sicherlich muss dies subtil geschehen. Weniger ist hier mehr.

Was war ihre erinnerungswürdigste musikalische Erfahrung in den letzten 12 Monaten? Und: Welches ist das bemerkenswerteste Buch, das sie während des Lockdowns gelesen haben?

Wie Sie wissen war Johann Sebastian Bach schon immer mein Lieblingskomponist. Er ist in jeder Hinsicht einzigartig. Wenn ich seine grösste Leistung benennen müsste, so wäre es die Kunst der Fuge. Und tatsächlich: Es ist DAS grosse Werk von ihm, das ich bis heute nicht einstudiert habe. In diesem Sinne hat die Covid-Krise auch ihr Gutes, denn jetzt habe ich Zeit, mich ausschliesslich diesem Werk zu widmen. Wobei: Es wird viele Jahre dauern. Die Pandemie hoffentlich nicht. Was die Literatur anbelangt, lese ich gerade Proust. Und zwar in vier Sprachen: Französisch (meine schwächste), Englisch, Deutsch und Ungarisch. Eine Erfahrung, die das Leben verändert.

Um vom Thema «Lockdown» wegzukommen: Ich kann mich daran erinnern, dass Sie länger über Otto Klemperer gesprochen haben, als Sie bei meinem alten Orchester in London zu Gast waren. Welche anderen Musiker waren oder sind noch immer massgebend für Sie?

Ja, Klemperer. Je älter ich werde, desto tiefer bewundere ich ihn. Auch im Vergleich zu Furtwängler, Bruno Walter und Toscanini. Er kennt keine Eitelkeit, andere haben viel davon. Kein Ego, nichts. Er dient nur dem Komponisten und dem Werk. Seine Missa Solemnis, sein Fidelio, seine Jupiter Sinfonie, ich könnte die Aufzählung nahezu endlos fortführen. Weitere Künstler aus früheren Zeiten, die ich verehre, sind Casals, Adolph Busch und Joseph Szigeti. Bei den Pianisten sind es Schnabel, Edwin Fischer und auch Annie Fischer.

Ihre Auftritte sind sowohl für ihren Ernst als auch für ihre pure Spielfreude bekannt. Wenn wir etwas nach vorne schauen wollen: Sehen sie, dass die jüngere Generation diese Werte in sich aufnimmt?

Es sind keine guten Zeiten, um Kunst zu machen. Es ist eine schwierige Zeit für die darstellenden Künste. Es gibt keinen Mangel an Talenten und viele Pianisten spielen enorm gut, schnell, laut und fehlerlos. Das sind messbare Elemente. Aber das ist noch keine Technik, das ist Effizienz, das ist Mechanik. Technik ist viel mehr: Eleganz, Fantasie, Vorstellungskraft, Klangqualität, Millionen von Farben. Integrität wiederum meint den äussersten Respekt vor dem Komponisten, Texttreue, aber auch das Wissen darum, wie man einen Text liest. Es ist wie mit alten Manuskripten. Man muss sie genau lesen, dann aber zum Leben erwecken. Musikalische Notation ist nicht perfekt. Weit davon entfernt. Es gibt so viele Feinheiten, die gar nicht aufgeschrieben werden können.  Es geht um die Kunst des Timings. Das kann man nicht lehren. Und ja: Die Freude an der Musik!  Es ist viel einfacher, die Menschen zum Weinen zu bringen, als zum Schmunzeln oder zum Lachen. Die Musik ist ein grosses Privileg und eine Freude, und es ist wundervoll, sie mit anderen zu teilen.