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Oliver Schnyder und Alain Claude Sulzer, © Marcel Giger

Out on the Rigi with the pony – Alain Claude Sulzer’s text “Incognito” by Klosters Music 2022  

The evening by Alain Claude Sulzer and Oliver Schnyder (piano) entitled “Travellers– Histories & Stories“  in the packed Atelier Bolt as part of Klosters Music 2022 is still a fond memory. The two artists, who are friends, took the audience on an exciting musical-literary journey into the 19th century. From the texts of Alain Claude Sulzer, we chose his story entitled “Incognito”, which follows the trail of the British Queen Victoria. One hundred years later, members of the British royal family have become regular visitors to Klosters, not least the new British King Charles III. 


Inkognito reiste nicht nur die Kaiserin von Österreich, die auf dem mutmaßlich letzten Foto, das während eines Spaziergangs in Genf von ihr und ihrer Begleiterin entstand, so unscheinbar aussieht wie jede beliebige Bürgersfrau der calvinistischen Stadt. Inkognito war zwanzig Jahre zuvor – vom 7.August bis 9. September 1868 – auch die englische Königin Victoria mit drei ihrer neun Kinder in die Schweiz gereist, wo sie einen ganzen Monat in Luzern verbrachte, um von dort aus Touren in alle Himmelsrichtungen zu unternehmen. Inkognito aufzutreten – also unkenntlich zu bleiben – war lange Zeit das Privileg der Könige und Königinnen oder vielmehr: für Könige und Königinnen ein Privileg. Ein Privileg, in dessen Genuss ihre ungleich unbedeutenderen Untertanen tagtäglich kamen.

Wer sein Inkognito wahren wollte, musste sein Gesicht nicht notwendig hinter einer Maske oder einem Schleier verbergen, es genügte, sich durch bescheidene Kleidung verwechselbar zu machen. Während Prominente heute eher darunter leiden, wenn sie in der Menge (und von der Menge) nicht erkannt werden, galt es einst als Luxus der Könige, unerkannt ein Bad in der Menge nehmen zu können.

Erst wenn sie sich unter die Menge mischten (am wirkungsvollsten als Bettler), erfuhren sie, wie es war, Teil der regierten Masse zu sein; dass man dabei erfahren konnte, wie und was das Volk über einen dachte, war ein Nebeneffekt, den der Souverän je nach dem Grad seiner Aufgeklärtheit geniessen oder fürchten mochte.

Solange die hohen Herrschaften – ob Kaiser, Könige, Kalifen, Prinzen oder Prinzessinnen – nicht unter Beobachtung standen, konnten sie tun, was ihnen sonst ein kompliziertes Regelsystem – die höfische Etikette – verwehrte: entweder die Sau rauslassen oder einfach durchatmen und entspannen. Da ihnen die Macht während ihrer Abwesenheit auch entrissen werden konnte, war es allerdings ratsam, den Palästen nicht allzu lange fernzubleiben, ausser sie waren so reizend wie Audrey Hepburn als Kronprinzessin Ann in Billy Wilders Roman Holiday («Ein Herz und eine Krone»), die während ihrer Ferien in Rom höchstens befürchten muss, ihr Herz an Gregory Peck zu verlieren; um die Krone muss sie nicht bangen.

Queen Victoria war zu bekannt, um unerkannt zu bleiben, auch wenn sie nur 1,52 m gross war. In der Menge, wo man sie kaum je antraf, hätte man sie leicht übersehen können, aber wenn sie in ihrer Kutsche fuhr, waren die Insignien unmissverständlich, und auf diese und andere Annehmlichkeit wollte sie nicht verzichten: Sie reiste in Begleitung von drei eigenen Kutschen, Dienern, Gehilfen, Stallburschen und ihrem Bett. Inkognito zu reisen war für sie eine Frage der Sicherheit und mehr noch der Bequemlichkeit. Solange sie nicht in offizieller Mission unterwegs war, musste sie darüber hinaus auch keinen umständlichen und langweiligen Verpflichtungen nachkommen. Sich an der Rezeption als Gräfin von Kent einzutragen bedeutete, eine Art Privatheit geniessen zu können, oder sich zumindest zeitweise dieser Illusion hingeben zu wollen. Wenn sie nicht als Queen of Great Britain and Ireland reiste, musste sie weder Bürgermeister noch Bundesräte empfangen oder andere gekrönte Häupter treffen, die sich und ihr Nachleben nur zu gern mit ihrem Namen geschmückt hätten; wir können allerdings davon ausgehen, dass die Hoteldiener und Hoteliersgattinnen, vielleicht sogar die eine oder andere Sennerin nichtsdestotrotz einen tiefen Diener machte, sich verbeugte oder knickste, wenn die Queen ihre Wege kreuzte, auch wenn diese Art der Ehrerbietung in der Schweiz nie so verbreitet war wie etwa in Deutschland, wo man dem Handkuss da und dort noch heute begegnen kann.

Als Königin inkognito in Luzern zu logieren, hiess nicht, dass man von ihrer Anwesenheit nichts wusste, es besagte nur, dass sie wünschte, in Ruhe gelassen zu werden. Und Ruhe war, wofür die Schweiz schon damals bürgte. Ruhe bedeutete, dass man die kleine englische Queen nicht belästigte, wenn sie auf ihrem Pony auf die Rigi ritt, eine Bootsfahrt auf dem Vierwaldstättersee unternahm oder auf der Seebodenalp Tee trank und alpenländische Natur zeichnete; genauso konnten sich auch ein paar Generationen später die Mitglieder der englischen Königsfamilie in Klosters, Hemingway in Montreux, Richard Strauss in Sils Maria, Marcello Mastoianni in Verbier oder Angela Merkel in Pontresina darauf verlassen, nicht ständig von Einheimischen oder anderen Touristen belästigt zu werden – Ungemach bereiteten im Fall der Royals in späteren Jahren eher Paparazzi als neugierige Dorfbewohner.

Queen Victoria wohnte übrigens nicht in einem der zahlreichen Hotels, die ihren Namen trugen, denn diese gab es damals noch gar nicht, auch nicht im Hotel Englischer Hof, der 1855 eröffnet worden war, sondern in der überaus noblen, etwas abgelegenen Privatpension Wallis auf dem Gütsch. Die Aussicht von Luzerns Hausberg war «wunderschön mit dem See – Pilatus, der Rigi usw. – ich kann meinen Augen kaum trauen, wenn ich mir das ansehe! Es wirkt wie ein Gemälde oder eine Verzierung – ein Traum!»

Löwendenkmal, Pilatus, Gotthardpass, Teufelsbrücke und Schöllenenschlucht waren von hier aus ebenso leicht erreichbar wie der Vierwaldstättersee, wo Victoria zu jeder Zeit das Dampfschiff Winkelried zur Verfügung stand, und auch die Hohle Gasse zu Küssnacht, in der Tells Geschoss den Habsburger Vogt Gessler tödlich getroffen hatte, war gut zu erreichen. Als Victoria mit ihrem Gefolge auf den Furkapass reiste, nahm die Gesellschaft das einzige Gasthaus in Beschlag, was andere Reisende so erzürnte, dass sie wütende Leserbriefe an den Berner «Bund» richteten. Es dürfte sich dabei um ausländische Touristen gehandelt haben.

Darüber, ob die Königin, die noch immer um ihren sieben Jahre zuvor verstorbenen Mann Albert trauerte, nach ihrem Besuch in der Schweiz tatsächlich aufgeblüht oder weiterhin untröstlich geblieben sei, gehen die Meinungen auseinander. Die getrocknete Alpenrose, die er ihr als junger Mann vor der Hochzeit aus der Schweiz geschickt hatte, wollte zwar nicht mehr erblühen, aber beim Anblick der Blume, die sie wie eine Reliquie hütete, mochte sie sich für einen Augenblick dort mit ihm vereint glauben, wo sie nie zusammen gewesen waren. So jedenfalls mögen es jene sehen, die sich gern in die Gefühle gekrönter Häupter und ihrer Entourage versenken.

Die «Witwe von Windsor», deren «schlichte Bekleidung» und «bescheidenes Betragen» bei den Schweizern so gut ankam, trug jedenfalls auch weiterhin schwarz, was damals nicht nur bei Witwen ja an der Tagesordnung war (auch Elisabeth von Österreich trug auf ihrem letzten Foto schwarz, wenngleich sie nicht in Trauer war.)

 

© Alain Claude Sulzer / private use only 

new released: Alain Claude Sulzer: Doppelleben, Galiani Verlag Berlin 2022.