Alain Claude Sulzer, © Lucia Hunziker
Alain Claude Sulzer, © Lucia Hunziker

«Ich komme auch mal gern vom Weg ab»

Alain Claude Sulzer gehört zu den bekanntesten Schriftstellern der Schweiz. Für den gemeinsam mit dem Pianisten Oliver Schnyder gestalteten Abend am 2. August im Atelier Bolt (19 Uhr) hat er sich mit dem Fremdenverkehr in der Schweiz des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Und mit der Musik, die auf diesen Reisen komponiert wurde. Georg Rudiger hat ihm einige Fragen dazu gestellt.

Georg Rudiger, 24/01/2022

 


 

Georg Rudiger: Im 19. Jahrhundert wurde die Schweiz nach und nach verkehrstechnisch erschlossen. Die Eisenbahn machte das Reisen bequemer. Warum wurde das Land für viele Dichter, Maler und Komponisten zu einem Sehnsuchtsort?

Alain Claude Sulzer: Die Schweiz als idealer oder idealisierter Ort ist natürlich älter als die Eisenbahn. Dazu hat für den deutschen Sprachraum nicht zuletzt Friedrich Schiller beigetragen, der in Wahrheit gar nie hier war. Er hat das Bild der Schweiz dennoch stark geprägt. Seit seinem Wilhelm Tell galt die Schweiz als Hort der Freiheit, allerdings auch als Zuflucht für Attentäter und Anarchisten, vor denen sich die zeitgenössischen Herrschenden durchaus fürchteten. Elisabeth von Österreich, die in Genf ermordet wurde, hat darüber sogar ein geradezu prophetisches Gedicht geschrieben.

Warum haben Sie und der Pianist Oliver Schnyder gerade Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Liszt für Ihren musikalisch-literarischen Abend ausgesucht?

Was Liszt angeht nicht zuletzt deshalb, weil sich manche seiner Kompositionen explizit auf Schweizer Motive beziehen, ohne Programmmusik im engeren Sinn zu sein, sie haben ja eher intimen, tagebuchartigen Charakter, weshalb sie in gewisser Weise Merkmale einer geradezu  impressionistisch anmutenden Tonsprache aufweisen. Wie Mendelssohns Lieder ohne Worte sind sie zuallererst Stimmungsbilder. In Stücken wie dem «Au lac de Wallenstadt» aus dem ersten Band der «Années de pèlerinage: Suisse» ging es Liszt darum, das Wasser an sich musikalisch wiederzugeben. Das geht meines Erachtens weit über Tonmalerei hinaus. Er setzte vielmehr das Wesen des Wassers in Töne, er transzendierte Materie in Musik.

Felix Mendelssohn führte Tagebuch und schrieb Briefe auf seinen vier Reisen durch die Schweiz zwischen 1822 und 1847. Vor allem aber zeichnete er die Landschaften. Mit welchen Texten kommen Sie diesem Komponisten näher?

Lassen Sie sich überraschen wie ich mich überraschen lasse. Längst nicht alle Texte für diesen Abend sind schon geschrieben. Ich recherchiere in alle Richtungen, das heisst ich lese und komme auch gern mal vom Weg ab, und irgendwann bleibe ich an einem Detail hängen, das mich zu weiteren Schritten führt.

Die Freundschaft zwischen Ihnen und Oliver Schnyder entstand nach Ihrem 2012 veröffentlichten  Roman «Aus den Fugen», in dem ein abgebrochener Klavierabend vieles in Bewegung bringt. Was kennzeichnet Ihre Freundschaft?

Der allergrösste Respekt der Leistungen des jeweils anderen, wobei mein Respekt vor Olivers Vermögen – aus meiner Sicht – viel grösser ist. Er kann eines Tages immer noch Schriftsteller werden – an Talent fehlt es ihm ja nicht –, ich hingegen werde nie und nimmer auch nur zwei Takte Mozart spielen können. Unsere Freundschaft kennzeichnet aber natürlich nicht nur Bewunderung, sondern zum Beispiel auch Aufrichtigkeit und der gleiche Sinn für Humor.

Was macht das Reisen mit Ihnen?

Ich gehöre nicht zu den leidenschaftlichen Reisenden, ich habe das meiste, was man sehen kann und was andere gesehen haben, nicht gesehen. Aber was ich sah, insbesondere in den USA – egal, ob es sich um die Landschaften am Pazifik oder um Städte wie New York handelte – bleibt zum Glück sehr präsent. Die erinnerten Bilder bleiben stark, sie begleiten mich, so wie mich die Aussicht vom Piz Corvatsch oder vom Pilatus begleiten. Sie sind so stark, dass ich auch in Abwesenheit immer wieder davon zehre. Aber natürlich unterscheidet sich unser modernes Reisen stark vom Reisen im 18.  oder 19. Jahrhundert. Auch wenn man das Reisen in der Schweiz oder in Italien – den einst wichtigsten «Destinationen» der Touristen – heute als umständlich und abenteuerlich bezeichnen würde, suchte man doch vor allem die Annehmlichkeiten, nicht die Herausforderung. Man reiste im Idealfall sogar wie Victoria mit dem eigenen Bett.