
Mythen und Legenden:
Die Geschichten hinter der Musik
Musikwissenschaftler Georg Rudiger hat sich das Programm 2025 von Klosters Music genauer angehört.
Im ersten Teil: Joseph Haydns «Nelson»-Messe und Ludwig van Beethovens Ouvertüre zu «Coriolan» (Eröffnungskonzert).
Das Kyrie beginnt düster. Trompeten und Pauken spielen einen Fanfarenrhythmus auf einem Ton. Dazu erklingen schroffe Akkorde in den Streichern. Die am 31. August 1798 vollendete Messe Hob. XXII: 11 von Joseph Haydn in d-Moll heisst eigentlich «Missa in angustiis», also «Messe in Bedrängnis». Sie entstand in der Zeit der napoleonischen Kriege. Bekannter ist Haydns 40-minütiges Werk aber unter dem Namen «Nelson»-Messe. Der britische Admiral Horatio Nelson hatte die französischen Truppen im August 1798 in der Seeschlacht bei Abukir (Ägypten) vernichtend geschlagen und kam auf dem Heimweg zwei Jahre später auch im burgenländischen Eisenstadt vorbei, wo Joseph Haydn die Messe für seinen Auftraggeber Fürst Esterhazy komponiert hatte und den Kriegshelden nun persönlich traf. Ob Haydn bei der Komposition schon von Nelsons Sieg wusste, ist mehr als fraglich. Im Übergang vom Benedictus zum Osanna klingt die Messe für ein paar Takte jedenfalls militärisch und triumphal, wenn die Fanfaren des Beginns in den Trompeten triolisch zurückkehren und die Pauken den markanten Rhythmus mitschlagen.
Kriegerisch geht es auch in Ludwig van Beethovens 1807 komponierter «Coriolan»-Ouvertüre zu. Das gleichnamige Drama von Heinrich von Collin (1802) erzählt vom verstossenen römischen Feldherrn Gnaeus Marcius Coriolanus, der aus Rache mit einem feindlichen Heer in seine Heimatstadt Rom zurückkehrt und dort gegen die Plebejer kämpft. Nur seine Frau und seine Mutter können ihn von seiner Vergeltung abhalten – am Ende stürzt er sich in das eigene Schwert. Beethoven hat seine Ouvertüre in Sonatenform komponiert, aber die Coriolan-Geschichte kann man auch hören. Die schroffen Akkordschläge zu Beginn verdeutlichen den grimmigen Charakter des Patriziers, das erste Thema mit seinen unruhigen Achteln und den eingestreuten Generalpausen schafft eine bedrohliche Atmosphäre. Die Sanftheit der ihn beruhigenden Frauen findet man im Legato-Thema der Streicher, das später auch von den Holzbläsern veredelt wird. Die Ouvertüre schwankt zwischen Erregung und Beruhigung, zwischen Schroffheit und Kantabilität, ehe das Unruhe stiftende erste Thema am Ende alle Energie verliert. Drei Herzschläge, zu hören in den Pizzicati der Streicher – und die Ouvertüre ist zu Ende. Und Coriolan tot.
Im zweiten Teil: Ludwig van Beethovens Ouvertüre zur Ballettmusik «Die Geschöpfe des Prometheus» und seine Sinfonie Nr. 3 «Eroica»
Prometheus gehört zum Göttergeschlecht der Titanen. Er entwendete den Göttern das Feuer und brachte es den Menschen. Ende des 18. Jahrhunderts stand der Prometheus-Mythos aus der griechischen Antike auch für das Licht der Aufklärung. In Ludwig van Beethovens Ballettmusik zu «Die Geschöpfe des Prometheus» erschafft Prometheus wie in Goethes bekannter Hymne selbst die Menschen. Seine menschlichen Geschöpfe werden auf dem Parnass von Orpheus und Apollo in Kunst und Wissenschaft unterrichtet. Ein Tanz mit Bacchus beendet das am 28. März 1801 in Wien uraufgeführte Ballett. In der in Klosters gespielten Ouvertüre ist die Handlung zwar nicht abgebildet, aber die Energie dieses Schöpfungsaktes lässt sich durchaus nachfühlen. Nach markanten Akkordschlägen und einer gesanglichen Passage in der langsamen Einleitung beginnt das Allegro molto con brio ganz leise mit rasenden Achteln in den ersten Violinen, die vom Orchestertutti im Fortissimo beantwortet werden. Das Seitenthema strebt nach oben. Am Ende kehrt die Ouvertüre mit vehementen Tuttiakkorden wieder an ihren Anfang zurück.
Bei Beethovens Sinfonie Nr. 3 «Eroica» steht ein anderer Held im Mittelpunkt. Eigentlich hatte der Komponist seine Grenzen sprengende Komposition Napoleon Bonaparte gewidmet. Beethoven war begeistert von den Idealen der Französischen Revolution. Als sich der ruhmreiche Feldherr aber 1804 zum Kaiser krönen liess, zerriss Beethoven wütend die Titelseite des fertigen Manuskripts mit den Worten: «Ist der auch nicht anders wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füssen treten, nur seinem Ehrgeize frönen, er wird sich nun höher wie alle andern stellen, ein Tyrann werden!» Im Erstdruck 1806 widmet Beethoven die Sinfonie «dem Andenken an einen grossen Menschen». Musikalisch erinnert die «Eroica» nach wie vor an französische Revolutionsmusiken. Der zweite Satz ist ein Trauermarsch für einen gefallenen Helden. Starke Kontraste kennzeichnen die Sinfonie. Das stürmisch beginnende Variationsfinale zitiert ein tänzerisches Thema aus «Die Geschöpfe des Prometheus». Und zieht somit eine direkte Verbindung zwischen Göttern und Helden.
Im dritten Teil: Richard Wagners Ouvertüre zur Oper «Der fliegende Holländer».
«Ouverture» stammt aus dem Französischen und heisst übersetzt «Eröffnung». Die meisten Ouvertüren bereiten die ihr folgende Oper vor. Sie schaffen Atmosphäre und schärfen die Aufmerksamkeit des Publikums. Richard Wagners Ouvertüre zu seiner am 2. Januar 1843 in Dresden uraufgeführten Oper «Der fliegende Holländer» geht gleich in die Vollen. Das Tremolo der Streicher schafft Unruhe. Das bereits im zweiten Takt in den Hörnern einsetzende, markante Thema, dessen Beginn von den Posaunen wiederholt wird, stellt den Protagonisten vor: Der Holländer, Kapitän eines Geisterschiffes. Wegen Gotteslästerung ist er dazu verdammt, ruhelos über die Meere zu segeln, bis er von der Liebe einer treuen Frau erlöst wird. Plastisch malt Wagner die wogenden Wellen und schäumende Gischt, indem er in den Streichern immer wieder Höhepunkte ansteuert und Orchesterklänge eskalieren lässt. Aber auch weniger dramatische Töne sind in der Ouvertüre zu hören, wenn in den Holzbläsern das lyrische Erlösungsmotiv erklingt oder der Matrosenchor instrumental vorweggenommen wird. Durch den Tod der treuen Senta, die sich von den Klippen ins Meer stürzt, wird der «Fliegende Holländer» erlöst, was in den Oboen zu hören ist. Das Geisterschiff versinkt. Und aufsteigende Harfenklänge untermalen die Verklärung. Eine Ouvertüre als Opernextrakt.
Im vierten Teil: Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 5.
Den Ausdruck «Schicksals-Sinfonie» kennt man vor allem in Zusammenhang mit Ludwig van Beethovens 5. Sinfonie. In die Welt gebracht hat diesen Begriff Beethovens Sekretär und Biograf Anton Schindler. Als dieser einmal den Komponisten nach dem markanten Motiv fragte, mit dem dessen fünfte Sinfonie startet, soll dieser gesagt haben: «So pocht das Schicksal an die Pforte». Um das Schicksal geht es auch in Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie in e-Moll aus dem Jahr 1888. In einer Tagebuchnotiz schreibt der Komponist zum ersten Satz: «Introduktion. Völlige Ergebung in das Schicksal, oder, was dasselbe ist, in den unergründlichen Ratschluss der Vorsehung. – Allegro: Murren, Zweifel, Klagen, Vorwürfe.» Das Schicksalsmotiv mit dem markanten, einmal wiederholten Fanfarenrhythmus lang-kurz-kurz-lang wird gleich zu Beginn der langsamen Einleitung in den Klarinetten vorgestellt, spielt dann aber im Gegensatz zum punktierten, vom Fagott eingeführten Hauptthema im weiteren Satzverlauf keine Rolle mehr. Im Andante cantabile taucht das Schicksalsmotiv zweimal an zentralen Punkten unüberhörbar im dreifachen Forte auf, im zarten Walzer erklingt es ganz dezent kurz vor Schluss in den Klarinetten und Fagotten. Das Finale schliesslich zelebriert von Beginn an das Fanfarenmotiv im strahlenden E-Dur. Alle Zweifel sind zumindest vordergründig überwunden. Und wenn ganz am Ende das Schicksalsmotiv in den leuchtenden Trompeten wiederkehrt, wird die Sinfonie zum Siegesmarsch.
Stand Juni 2025